News Bild Interview mit Agnes Bachmann von der Katholischen Akademie für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen in Bayern e.V.
Interview mit Agnes Bachmann von der Katholischen Akademie für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen in Bayern e.V.

„Müssen Attraktivität des Pflegeberufs steigern"!

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Regensburg, 26. April 2024

Im Interview mit der Pressestelle des Bistums Regensburg betonte Agnes Bachmann von der Katholischen Akademie für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen in Bayern e.V.: „Insgesamt wird es in den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Altenhilfe darum gehen, Pflegekonzepte zu entwickeln, die die Lebensqualität der Menschen mit medizinischem und pflegerischem Versorgungsbedarf sowie das gesamte Hilfs- und Unterstützungssystem in den Blick nehmen.“

 

Dank der demographischen Entwicklung werden wir älter, aber nicht gesünder. Welche Herausforderung ist derzeit die größte für die Pflegeberufe und die Ausbildung?

Die Gesellschaft steuert auf einmassives Problem zu, das bereits jetzt spürbar ist: Der pflegerische und medizinische Versorgungsbedarf nimmt in den nächsten Jahren weiter zu (alternde Gesellschaft – steigende Zahl von hochaltrigen und an Demenz erkrankten Menschen, laut des BARMER Pflegereports 2021 wird 2030 von 6 Mio. pflegebedürftigen Menschen ausgegangen). Die Zahl der älteren Mitarbeiter in der Pflege steigt. Alleine in den nächsten 10 – 12 Jahren gehen 500.000 Pflegefachkräfte in den Ruhestand. Der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung wird sich gegenüber dem Anteil der nichterwerbstätigen Bevölkerung weiter verringern. Dadurch wird sich der personelle wie auch finanzielle Ressourcenmangel in allen Sektoren weiter zuspitzen. Das Gesundheits- und Sozialwesen sowie die Alten- und Behindertenhilfe stehen somit in Konkurrenz zum öffentlichen Dienst und der freien Wirtschaft. Es geht künftig also darum, die Attraktivität des Pflegeberufs für vor allem junge Menschen zu steigern. Dies kann über ein verändertes und attraktives Kompetenz- und Tätigkeitsprofil gelingen, wie dies bereits durch die Novellierung des Pflegeberufegesetzes mit den Vorbehaltsaufgaben von Pflegefachkräften vorgesehen ist.

 

Sie bilden in Ihrer Akademie u. a. Fachkräfte weiter: Vor welchen Herausforderungen stehen Sie im 21. Jahrhundert?

Unter dem Eindruck des eklatanten Fachkräftemangels wird häufig an der Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter und damit im Bereich der Personalentwicklung gespart. Darüber hinaus werden Arbeitsabläufe in den Einrichtungen vermeintlich effizienter gestaltet und Handlungs- und Gestaltungsspielräume von Pflegenden weiter eingeschränkt, um die Patienten, die Pflegebedürftigen und die Klienten zu „versorgen“. Dies greift jedoch zu kurz und ist wenig befriedigend und sinnstiftend für Pflegefachkräfte. „Dafür habe ich diesen Beruf nicht gelernt!“, so die Aussage einer Pflegefachkraft.

Die Arbeitswelt ist durch Komplexität, Unbeständigkeit, zunehmende Ungewissheit und Mehrdeutigkeit geprägt. Bisher verlässliche Lösungen und Strategien sind nicht mehr zielführend. „Insgesamt wird es in den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Altenhilfe darum gehen, Pflegekonzepte zu entwickeln, die die Lebensqualität der Menschen mit medizinischem und pflegerischem Versorgungsbedarf sowie das gesamte Hilfs- und Unterstützungssystem in den Blick nehmen.“ Hierzu gehören über das neue Tätigkeits- und Kompetenzprofil der Pflegefachkräfte hinaus vor allem auch die Veränderung der innerbetrieblichen Strukturen und Abläufe. Dies beinhaltet die sinnhafte Verzahnung von Organisations- und Personalentwicklung.

Für Bildungseinrichtungen bedeutet dies, beide Bereiche in den Blick zu nehmen und stringent miteinander zu verzahnen. Die Veränderungen werden sowohl von Leitungsebene als auch von Mitarbeiterebene aus der Praxis heraus entwickelt. Somit werden Lösungen entwickelt, die für die jeweiligen Einrichtungen passgenau und zielführend sind.

Beispielhaft sei hier vor allem die Implementierung eines neuen Pflegeorganisationssystems genannt, das die Umsetzung der Vorbehaltsaufgaben und damit verbunden ein kompetenzorientiertes Arbeiten in der Pflege ermöglicht und zudem die Menschen mit pflegerischem und medizinischem Versorgungsbedarf in den Mittelpunkt stellt. Hierfür braucht es die Vertiefung und Erweiterung der fachlichen und sozialkommunikativen Kompetenzen in der Personalentwicklung wie auch die Veränderung der entsprechenden Strukturen in der Einrichtung.

Die Herausforderung liegt darin, sowohl die Pflegenden wie auch die Einrichtungen darin zu stärken, unter engen Rahmenbedingungen eine gute Lebensqualität für Alle (die Patienten, die Pflegebedürftigen und Klienten sowie deren Angehörige und auch die Mitarbeiter) zu erreichen. Hierzu gehören eine neue Form und Kultur der Zusammenarbeit in den Einrichtungen und der Zugang zu und die Durchlässigkeit von Aus-, Fort- und Weiterbildung, wie dies im Prinzip im Deutschen Qualifikationsrahmen vorgesehen, jedoch nicht umgesetzt ist. Deutlich wird, dass in den Einrichtungen tiefgreifende Transformationsprozesse mit neuen Lösungsansätzen benötigt werden.

 

Moral und Normen verändern sich in der Gesellschaft. Wie verändert sich unsere Gesellschaft mit Blick auf das Gesundheits- und Sozialwesen und in welche Richtung?

Digitalisierung, Selbstverwirklichung, Autonomie und Selbstbestimmung, Egozentrismus, Narzissmus, Work-Life-Balance (in der Zwischenzeit wird sogar von Life-Work-Balance gesprochen) sind Schlagworte, die nicht nur die Generationen Y und Z auszeichnen. Immer schneller, immer höher, immer weiter, immer mehr und das mit möglichst wenig Einsatz und Anstrengung/Leistung, so der Mainstream. (Nicht nur) in den sozialen Medien werden vor allem schöne, erfolgreiche und gesunde Menschen gezeigt, Prädikate, auf die wir vermeintlich Anspruch haben. Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, die sich vieles, wenn nicht sogar alles leisten kann. Dabei bildet die Realität etwas Anderes ab. Die soziale Schere hat sich weiter verschärft. Laut Mikrozensus 2023 liegt die Quote der strengen Armut bei 10,1 Prozent und der Armut bei 16,7 Prozent (2010 7,7 und 14,5). Unzufriedenheit, Enttäuschung bis hin zu Frustrationen und Depressionen sind Folgen.

  • Die große Frage ist, wie wir als Gesellschaft mit Krankheit, Handicaps und Tod umgehen.
  • Was ist der (alte) Mensch wert, der nicht (mehr) im Sinne unserer Gesellschaft funktioniert?
  • Wie gehen wir mit Menschen um, die am Rande der Gesellschaft, ausgegrenzt leben?

Allgemein besteht die Idee, dass wir uns gegen und für alles versichern können. So schützt die Pflegeversicherung beispielsweise nicht davor, selbst Hilfe und Unterstützung zu benötigen und deckt bei weitem nicht den kompletten Hilfebedarf. Hinzu kommt die Veränderung der familialen Strukturen, der Zunahme von Single-Haushalten, die Notwendigkeit, dass beide Partner erwerbstätig sein müssen, um das notwendige Einkommen zu erwirtschaften. Viele Aufgaben, die früher selbstverständlich von der Familie übernommen wurden, werden nun in bzw. auf institutionelle Kontexte verlagert. Hinzu kommt, dass im Gesundheitswesen und der Langzeitpflege seit den 80er Jahren im Blick auf die wirtschaftliche Risikominimierung Krankenhäuser, Altenhilfeeinrichtungen etc. an Konzerne veräußert wurden, die auf Gewinnmaximierung zielen. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ist schon lange dem Prinzip der freien Marktwirtschaft gewichen. Dies betrifft sowohl das Gesundheitswesen und die Altenhilfe sowie nahezu alle Bereiche der Grundversorgung (z.B. auch Energie und Wasser).

Sowohl die personellen wie auch die finanziellen Ressourcen sind knapp. Die Kompensationsmöglichkeiten sind bereits jetzt erschöpft. Die gesetzlichen Ansprüche auf Hilfe und Unterstützung (SGB XI) werden künftig nur noch eingeschränkt eingelöst werden können. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen. Die Wartezeiten auf Facharzttermine, notwendige Untersuchungen etc. sind bei Kassenpatienten eklatant. Aufgrund der bestehenden Mindestpersonalbemessungen in den Einrichtungen der stationären Langzeitpflege und in den Kliniken müssen Wohnbereiche und Stationen geschlossen werden, ambulante Pflegedienste können keine bzw. nur noch begrenzt Kunden annehmen, bei gleichzeitig steigenden medizinischem und (sozial)pflegerischem Versorgungsbedarf.

Diese Situation ist nicht neu, sie hat sich jedoch aufgrund der Pandemie mit dem Covid 19 Virus verschärft. Bereits in den 80er Jahren fanden Demonstrationen aufgrund des damals bereits bestehenden Pflegenotstandes statt. An dieser Situation hat sich nichts verändert. Die Maßnahmen zur Behebung erwiesen sich demnach als nicht zielführend und geeignet, das Problem grundlegend zu beheben. – Eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe.

Die große Frage ist, wie die Ressourcenallokation in Zukunft aussehen wird und ob das Diktat des freien Marktes im Gesundheits- und Sozialwesen sowie der Alten- und Behindertenhilfe künftig fortgeführt und weiter verschärft wird. Eine zutiefst ethische Fragestellung, die einen gesellschaftlichen Diskurs verlangt. Stattdessen wird der Versuch unternommen, durch Prüfungsinstanzen (z.B. durch den Medizinischen Dienst und die FQA) zu einer Verteilungsgerechtigkeit und Qualitätssicherung zu gelangen, die eher eine Kultur der Kontrolle und des Misstrauens befördert und stärkt. Darüber hinaus wurden und werden unterschiedliche Beratungsstellen auf- und ausgebaut, die jedoch in der Regel nicht miteinander vernetzt sind. Die Beratung gem. § 7a wird nach dem SGB XI an die Kostenträger gebunden. Dabei werden in der Regel weder die individuelle Situation und die Bedarfe der Betroffenen Menschen und deren komplettes soziales Umfeld in den Blick genommen, noch gemeinsame, ressourcenorientierte Lösungen erarbeitet (z.B. Sozialraumorientierung, Quartiersbezug, etc.). Die Leistungen und Einrichtungen sind frakturiert und in der Regel nicht miteinander vernetzt. Insbesondere in Zeiten knapper personeller und finanzieller Ressourcen ist dies weder wirtschaftlich noch individuell für die Betroffenen und deren soziales Netzwerk zielführend. Hier braucht es neue Konzepte in der Pflege sowie leistungsrechtlich und politisch radikale Veränderungen, wie diese auch von Herrn Holetschek, Staatsminister für Gesundheit und Pflege a.D., gefordert wurden.

 

Was hat unsere Gesellschaft versäumt, wenn es immer weniger Menschen gibt, die für andere solidarisch eintreten und im Sinne der Caritas arbeiten?

Wir warten immer darauf, dass „die Gesellschaft“ sich verändert. Da kann ich als Person ja erst einmal sehr entspannt sein und warten, dass etwas getan wird, sich andere bewegen. Aber, wer ist denn „die Gesellschaft“? Sie setzt sich aus jedem einzelnen von uns zusammen und so liegt es auch an jedem einzelnen Menschen etwas zu tun, für die Werte, die uns ausmachen einzutreten, für die Grundrechte, die Würde eines jeden Menschen, egal in welcher Situation er sich befindet. Wir müssen neu lernen empathisch, zugewandt, wertschätzend, rücksichtsvoll und solidarisch miteinander umzugehen und füreinander einzutreten. Wir müssen lernen (mit)verantwortlich zu sein und (Mit)Verantwortung zu übernehmen. Der Kummer, die Not und das Leid des anderen kann und darf uns nicht egal sein. „Wir müssen wieder lernen mit dem „Herzen zu sehen und zu hören“ und nicht ausschließlich dem Diktat der Vernunft folgen.

„Ich denke also bin ich.“, so Descartes. Aus der Gehirnforschung wissen wir jedoch, dass wir zuerst fühlen und dann denken. „Ich fühle also bin ich.“, müsste der Satz von Descartes korrigiert werden und wir als mitfühlende Menschen handeln, die sich dem anderen respektvoll, hilfreich und unterstützend zuwenden. Hierzu gehört auch, Hilfe anzunehmen, sich schwach und unvollkommen zeigen zu dürfen.

Mit dem Thema Pflege, Hilfe und Unterstützung setzen sich viele Menschen erst auseinander, wenn sie selbst, jemand in der Familie oder im Freundeskreis betroffen ist. Krankheit und Tod haben nur wenig Platz in unserer Gesellschaft. Ich will nicht zur Last fallen, nicht zur (Be-)Last(ung) für andere werden. So wird in den Medien für eine Sterbeversicherung mit folgender Aussage geworben: „Damit Sie ihren Angehörigen nicht zur Last fallen!“ Oder eine andere Aussage „Wenn ich Hilfe brauche, gehe ich in ein Pflegeheim, ich möchte meinen Kindern nicht zur Last fallen, das möchte ich meinen Kindern nicht zumuten.“

Mit dem Urteil des BVerfGs aus dem Jahr 2020 wurde die Option für ein autonomes Sterben eingeführt. Das Leben durch assistierten Suizid selbst zu beenden (§ 217 StGB), ist jetzt eine straffreie Möglichkeit. Die Gefahr, dem Diktat von Autonomie und Selbstbestimmung zu folgen, weil sich die Betroffenen Menschen als Last für andere wahrnehmen, eine gute Versorgung nicht mehr leistbar ist und sie aus diesen Gründen nicht mehr leben möchten, ist hoch. Wir müssen also auch lernen, uns wieder zuzumuten.

 

Spielt die Digitalisierung eine Rolle und, wenn ja, welche? Pflegeroboter sind das eine, eine Gesellschaft, die sich nur noch im Virtuellen bewegt das andere.

Digitalisierung in der Pflege als hilfreiche Assistenz und Unterstützung und damit verbunden ein reflektierter Einsatz von Digitalisierung ist in jedem Fall zu befürworten, wie z.B. Bestellsysteme, Dokumentation, digitale Patientenakte, Videokonferenzen mit den Hausärzten, etc. Digitalisierung kann jedoch in keinem Fall die zwischenmenschliche Kommunikation ersetzen, da Pflege in erster Linie Beziehungsarbeit ist. Die Aussage von Martin Buber (Philosoph) „Ich werde nur zum ICH über das DU“ macht deutlich, dass wir einen Menschen als Gegenüber benötigen. Auch das hat uns die Pandemie auf vielfältige Weise gezeigt.

 

Wie ist das Problem zwischen den Rahmenbedingungen in der Pflege einerseits und die eigenen ethischen Ansprüche andererseits miteinander zu verbinden?

Pflege hat mit der verantwortlichen Übernahme der Vorbehaltsaufgaben in der Pflege eine zentrale Rolle und Schlüsselposition sowie steuernde Wirkung in der medizinischen und (sozial)pflegerischen Versorgung der Gesamtbevölkerung. Sie ist fester Bestandteil im therapeutischen Team. Dabei geht es vor allem darum, Menschen mit medizinischem und (sozial)pflegerischem Versorgungsbedarf sowie deren gesamtes soziales System so zu beraten, zu begleiten und zu unterstützen, dass diese in ihrer Stärke und Verantwortung bleiben. Sie nimmt das gesamte Umfeld der Betroffenen in den Blick und entwickelt gemeinsam mit ihnen Lösungen, die für ihre Situation angemessen sind. Dabei werden vor allem niedrigschwellige Unterstützungsleistungen durch den Freundes- und Bekanntenkreis, die Nachbarschaftshilfe und das Ehrenamt erschlossen. Die Menschen mit dem höchsten Unterstützungsbedarf werden dann bei freien Kapazitäten der professionellen Versorgung zugeführt. Dadurch könnte die Selbstwirksamkeit von beruflich Pflegenden gestärkt und das Spannungsfeld zwischen den Rahmenbedingungen in der Pflege einerseits und den eigenen ethischen Ansprüchen andererseits durch das Prinzip der geteilten Verantwortung gemindert werden.

Hierfür braucht es jedoch, wie bereits aufgeführt, tiefgreifende Veränderungen im gesundheitspolitischen und leistungsrechtlichen Bereich. Es braucht mutige Entscheidungen, die Bereitschaft zur Veränderung, eine systemische Sichtweise, die Veränderung aus der Praxis heraus, Gestaltungsspielräume, die Unterstützung zur Verantwortungsübernahme und das Zusammenwirken von allen Beteiligten. Es braucht gelebte Empathie, Solidarität und Fürsorge als gemeinsam geteilte Werte in unserer Gesellschaft.

Das Interview führte Stefan Groß.

(SSC)



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